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ProLOEWE Persönlich

Professor Dr. Christian Wiese Forscher für den Dialog der Religionen

© Uwe Dettmar/Goethe-Universität Frankfurt am Main

Herr Prof. Wiese, Sie sind Sprecher des seit 2017 geförderten LOEWE-Schwerpunkts „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“. Was ist das wichtigste Ziel Ihrer Forschungsarbeit? Ausgangspunkt unserer Forschungen ist die Diagnose, dass die drei monotheistischen Religionen neben ihren teils exklusiven Zügen und dem Konfliktpotenzial, das ihren Geltungsansprüchen innewohnt, auch bedeutsame Elemente des Dialogischen und der Pluralismusfähigkeit aufweisen.

Welcher Rahmenbedingungen  bedarf es also, damit religiöse Traditionen konstruktiv mit Diversität, Differenz und dem Widerspruch gegen die je eigenen Glaubensüberzeugungen oder Lebensformen umgehen, ohne sich in die Relativierung des Eigenen oder die Diskriminierung des Anderen zu flüchten?

Diese Frage wollen wir aus der Sicht unterschiedlicher historischer und empirischer Disziplinen erforschen und zugleich in einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion stellen.

Wenn man sich in Deutschland umschaut und sieht, wie viele Menschen aus der Kirche austreten, scheint Religion hier keine große Rolle mehr zu spielen. Können Sie das bestätigen? Das könnte – mit Blick auf die christlichen Kirchen – tatsächlich erst einmal so erscheinen. Die Realität ist jedoch vielfach anders: Die Religionssoziologie spricht von einer postsäkularen Gesellschaft, in  der weiterhin mit vielfältigen religiösen Vorstellungen, Bedürfnissen und Sehnsüchten zu rechnen ist. An die Stelle weniger dominierender religiöser Institutionen ist eine Pluralität religiöser Phänomene, Gruppen und Lebensweisen getreten, die als bereichernd, aber auch als irritierend erlebt wird.   

Wie hat sich mit Blick auf die vergangenen 75 Jahre unsere Gesellschaft in Bezug auf Religion, Religiosität und Offenheit gegenüber anderen Religionen verändert? Unsere Gesellschaft ist in einer Weise zugleich säkularer und religiös vielfältiger geworden, die neue Chancen und Herausforderungen mit sich bringt. Einerseits ist kulturelles Wissen über Religion(en) nicht mehr einfach vorauszusetzen, andererseits leben in einer Stadt wie Frankfurt am Main neben jenen, für deren Leben Religion kaum noch eine Rolle spielt, zahllose unterschiedliche religiöse und ethnische Gemeinschaften zusammen. Diese Konstellation erfordert mehr denn je eine Kultur wechselseitiger Kenntnis, Offenheit und Achtung.

Dabei sind viele Fortschritte zu verzeichnen, etwa was den christlich-jüdischen Dialog betrifft, der seit den 1980er Jahren eine ganz neue Dynamik gewonnen hat. Dennoch gehören religiöse Vorurteile gegenüber dem Judentum nach wie vor zu einer der komplexen Ursachen des weiterhin virulenten Antisemitismus. Auch die verbreiteten Ängste und Ressentiments mit Blick auf die Präsenz der vielgestaltigen Strömungen des Islams in Deutschland stellen an Wissenschaft, Bildung und Politik neue Anforderungen.

Multireligiosität als positives Element kultureller Vielfalt stellt ebenso eine Realität dar wie das Austragen religiös-kultureller Konflikte, die damit einhergehen.      

Was müsste sich Ihrer Einschätzung nach ändern, damit die Menschen in Zukunft längerfristig respektvoll und friedlich miteinander leben können? Die gegenwärtigen politischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen weltweit machen es nicht leicht, Zuversicht zu bewahren. Von unseren Forschungen zu den „religiösen Positionierungen“ her formuliert: Grundbedingung für den konstruktiven Umgang mit Differenzen und Konflikten in pluralen Gesellschaften ist eine Verbindung aus Klarheit der eigenen Perspektive und der epistemischen Demut, die auch mit der Wahrheit der/des Anderen rechnet. Wissenschaft kann das nicht aus sich heraus bewirken, aber ich setze auf Prozesse in Bildung und Gesellschaft, die die Einsicht in die eine grundlegende Menschlichkeit aller Menschen fördert. Demut in der beschriebenen Weise gehört zweifellos dazu.   

Was hat für Sie den Ausschlag gegeben, im Bereich der Religionswissenschaften zu forschen? Die Konfrontation mit der Menschenrechtssituation in Südamerika, wo ich einen großen Teil meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, hat mich zu einem stark politisch motivierten Studium der Evangelischen Theologie bewegt. Entscheidende Impulse zu der späteren Konzentration auf die Judaistik erhielt ich durch ein Studienjahr in Jerusalem. Alle meine Forschungsinteressen mit Blick auf die vielfältige religiöse und kulturelle Tradition des Judentums haben hier ihren Ursprung, ebenso wie mein Nachdenken über die Bedingungen für einen ernsthaften, von Achtung getragenen Dialog der Religionen.      

Können Sie uns ein persönliches Highlight  im Zusammenhang mit Ihrem Forschungsthema in den vergangenen Jahren nennen? Neben den vielen unterschiedlichen Begegnungen und Gesprächen im Zuge des LOEWE-Projekts war einer der Höhepunkte sicher der von mir gemeinsam mit der Hebräischen Universität Jerusalem veranstaltete Kongress zum Denken des Philosophen Franz Rosenzweig. Fünf Tage lang im Februar 2019 in Jerusalem mit an die 100 Forscher*innen aus zahlreichen Ländern intensiv über Rosenzweigs berühmtes Werk „Stern der Erlösung“ zu diskutieren, war ein einzigartiges Erlebnis. Das steht aber gleichberechtigt neben den viel kleineren Formaten, etwa den regelmäßigen Symposien zu interreligiösen Dynamiken in Cambridge, mit Gesprächen, die sich abends in die Pubs der Stadt verlagern. 

Wie haben Sie das Jahr 2020 erlebt? Gab es nur negative oder auch positive Einflüsse auf Ihre Arbeit? Persönlich gab es auch Sorgen um Menschen, insgesamt das Entsetzen über die Verluste an Menschenleben weltweit. Traurig ist es, wenn mir Studierende berichten, dass sie seit ihrem Studienbeginn nur einmal auf dem Campus waren, um Ihren Bibliotheksausweis abzuholen, und noch nie einen ihrer Dozent*innen in Person erlebt haben. Das Bedürfnis nach Austausch und Gespräch findet in den virtuellen Seminaren und Vorlesungen jedoch auch Ausdruck in einer neuen Intensität von Diskussionen. Auch eröffnet die erzwungene Digitalisierung meiner Arbeit neue Wege für die Vermittlung meiner Forschungsergebnisse, die für die Zeit nach der Pandemie relevant bleiben – und sei es nur der YouTube-Channel meiner Professur. 

Vier Jahre hessische Forschungsförderung: Was konnten Sie durch die LOEWE-Förderung erreichen, was Sie sonst nicht hätten bewirken können? Und wie geht es weiter? Ich hoffe, für die zahlreichen Beteiligten des Projekts sprechen zu können, wenn ich die Chance zu einer mehrjährigen interdisziplinären Zusammenarbeit über fünf Fachbereiche hinweg und mit zahlreichen internationalen Fellows hervorhebe.

Mit unseren theologischen, religionswissenschaftlichen, soziologischen und bildungstheoretischen Forschungen zur Frage des konstruktiven Umgangs mit der Pluralität und der teils konflikthaften Differenz zwischen Judentum, Christentum und Islam haben wir zu Etablierung eines Profilbereichs der Goethe-Universität Frankfurt beigetragen, der unter dem Titel „Universalität und Diversität: Sprachliche, religiöse und kulturelle Dynamiken“ Chancen zum intensivierten Gespräch der Religionsforschung mit anderen geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen eröffnet. Aus dem der jüdischen Religionsphilosophie gewidmeten Teilprojekt des LOEWE-Schwerpunkts heraus ist es gelungen, ein auf 24 Jahre angelegtes digitales Akademieprojekt zum dialogischen Denken des Philosophen Martin Buber im Spiegel seiner Korrespondenzen einzuwerben, worüber ich mich sehr freue.   

Möchten Sie uns verraten, was Ihnen neben Ihrer Berufung als Wissenschaftler in Ihrer Freizeit als Ausgleich dient? Als Vater zweier erwachsener Söhne und als stolzer Großvater zweier kleiner Enkeltöchter finde ich meine Kraftquelle und Erdung in meiner Familie in Deutschland und England. Neue Ideen kommen mir vor allem auch dann, wenn ich mit meiner Frau ausgedehnte Wanderungen an der Küste im Süden Englands unternehme, einem meiner Sehnsuchts- und Zufluchtsorte neben Jerusalem. Überhaupt reise ich viel, bin aber auch gerne zuhause, freue mich am literarischen Teil meiner Bibliothek und meiner Musik- und Filmsammlung.       

Zur Person

  • Sprecher des LOEWE-Schwerpunkts "Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten"
  • Inhaber der Martin Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt

Erschienen in ProLOEWE NEWS

Ausgabe 03.2020 / Dezember

Themen

Auch die LOEWE-Vorhaben sind durch die Corona-Pandemie vor große Herausforderungen gestellt. Wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler damit umgehen, erfahren Sie in der Dezember-Ausgabe der ProLOEWE-NEWS. Aber auch was Virtual Reality mit der Mobilität der Zukunft zu tun hat.

ProLOEWE persönlich

Im ProLOEWE persönlich-Portrait lernen Sie Professor Dr. Christian Wiese kennen, der im Rahmen des LOEWE-Schwerpunkts Religiöse Positionierung daran forscht, wie das Miteinander der monotheistischen Weltreligionen besser gelingen kann.

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