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Professorin Dr. Saloumeh Gholami Auf der Suche nach der Rolle der Sprache als Trägerin kultureller Identität und Zugehörigkeit

Frau Saloumeh Gholami
© Katrin Binner

Frau Prof. Gholami, Sie sind als Sprachwissenschaftlerin Mitglied des Direktoriums des LOEWE-Schwerpunkts „Minderheitenstudien: Sprache und Identität“ und haben gemeinsam mit Prof. Gippert das Konzept für diesen entwickelt: Was war dabei Ihr Ziel und welche Forschungslücke konnten Sie damit schließen?

In unserem Projekt untersuchen wir die Identitätsbildung von Gruppen aus der MENA-Region, die sowohl in ihren Herkunftsländern als auch in Deutschland Minderheiten sind. MENA steht für „Middle East and North Africa“. Die MENA-Region hat in der gängigsten Definition etwa 380 Millionen Einwohner, dies entspricht rund sechs Prozent der Weltbevölkerung. Wir berücksichtigen die historischen, politischen, gesellschaftlichen und sprachlichen Kontexte, die die Identitätsbildung dieser Gruppen beeinflussen. Ein besonderer Schwerpunkt unserer Forschung liegt auf der Rolle der Sprache als Träger kultureller Identität und Zugehörigkeit. Durch die Betrachtung sowohl der emischen (Selbstwahrnehmung) als auch der etischen (Fremdwahrnehmung) Perspektive analysieren wir die Dynamiken in ihren Heimat- und Gastländern. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Rolle der Sprache als Träger kultureller Identität und Zugehörigkeit. Wir erforschen, wie sprachliche Praxis und Mehrsprachigkeit das Selbstverständnis und die Integration dieser Gruppen beeinflussen und wie Sprachpolitik und Bildungssysteme ihre Identitätsbildung prägen.

Gerade vor dem Hintergrund aktueller Migrationstrends und Konflikte im Nahen Osten und Europa ist unsere Forschung von großer Relevanz. Migration und Flucht aus der MENA-Region nach Europa haben in den letzten Jahren stark zugenommen, was die Notwendigkeit einer tiefergehenden Untersuchung der Identitätsdynamiken dieser Gruppen unterstreicht.

In meinem eigenen Teilprojekt habe ich mich auf die ethnische Gruppe der Kurden konzentriert. Schätzungen zufolge leben zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Menschen kurdischer Abstammung in Deutschland (Stand 2019). Die erste Einwanderung von Kurden nach Deutschland reicht bis in die 1920er Jahre zurück.

Die kurdischen Gemeinschaften sind in verschiedenen Ländern wie der Türkei, Syrien, Irak, Iran und Armenien zu finden. Innerhalb dieser Gemeinschaften gibt es unterschiedliche sprachliche und religiöse Gruppen, darunter Zazaki, Gorani, Hawrami und Kurmandschi. Religiöse Zugehörigkeiten umfassen Aleviten, Sunniten, Shiiten, Ahl-e Haqq, Yeziden, Christen, konvertierte Zoroastrier und Juden.

Die Kurden dienen als prägnantes Beispiel für die Etablierung einer eigenständigen Ethnizität innerhalb von Mehrheitsgesellschaften, ein Prozess, der als Ethnogenese bekannt ist. Es gibt Anzeichen für Ethnogenese-Prozesse innerhalb der Untergruppen wie bei den Goran, Zaza und Lak.

Minderheiten können durch Faktoren wie Diskriminierung, Marginalisierung sowie politische und gesellschaftliche Veränderungen gespalten werden. Diese Prozesse verstärken oft die Tendenzen zur Bildung neuer, eigenständiger Identitäten innerhalb der größeren ethnischen Gemeinschaft, was die Komplexität und Dynamik der Identitätsbildung noch weiter erhöht.  

Im April 2024 wurden Sie mit ihrem Forschungsprojekt „Persisting Through Change: A Study of Oral Literature and Cultural Interaction in the Zoroastrian Community“ von der Universität Cambridge nominiert und schließlich von der britischen Gelehrtengesellschaft für eine von insgesamt acht Global-Professuren ausgewählt. Was bedeutet das für Sie und Ihre Arbeit?

Diese Auszeichnung ist eine große Anerkennung der Relevanz und Bedeutung meines Forschungsthemas. Sie unterstreicht, wie wichtig Minderheiten und indigene Gruppen für das Verständnis der Mehrheitskultur und gesellschaftlicher Interaktionen sind. Die British Academy und die Universität Cambridge erkennen die Untersuchung der zoroastrischen Kultur und ihrer gefährdeten Sprache als wesentlich an, um ein besseres Verständnis der kulturellen Dynamiken und des Erhalts mündlicher Traditionen in Zeiten des Wandels zu erlangen. Die Unterstützung und Ressourcen der Universität Cambridge bieten einen optimalen Rahmen für detaillierte Feldforschungen und tiefgehende Analysen. Die Global-Professur eröffnet mir eine internationale Plattform zum Austausch und zur Zusammenarbeit mit führenden Wissenschaftler:innen und Expert:innen. Diese Netzwerke und Kooperationen sind entscheidend, um interdisziplinäre Perspektiven zu integrieren und die Forschung auf ein neues Niveau zu heben.

Nach knapp vier Jahren im LOEWE-Forschungsnetzwerk – was denken Sie, was Ihnen durch die LOEWE-Forschungsförderung ermöglicht wurde, was Sie sonst nicht hätten erreichen können?

Ein wesentlicher Aspekt, den ich durch die LOEWE-Förderung intensiver verfolgen konnte, ist die gesellschaftliche Relevanz der Sprachwissenschaft. Bei LOEWE ist es von zentraler Bedeutung, dass Projekte nicht nur wissenschaftliche Qualität aufweisen, sondern auch gesellschaftlich und politisch relevant sind. Diese Anforderung hat mich dazu gebracht, nicht nur eng an linguistischen Theorien und Methoden festzuhalten, sondern die Sprachwissenschaft mehr im Kontext von Gesellschafts- und Minderheitenstudien zu betrachten. Dadurch konnte ich einen viel tieferen Einblick in die komplexen Zusammenhänge zwischen Sprache, Identität und gesellschaftlichen Strukturen gewinnen. Neben dem Lob für das LOEWE-Programm gibt es aber auch Punkte, die verbessert werden könnten: Wegen Sparmaßnahmen verlieren Hessens Universitäten viele renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ein Problem, das dringend gelöst werden müsste. Denn nur indem z. B. Programme wie LOEWE und die Universitäten gemeinsam sicherstellen, dass erfolgreiche Wissenschaftler:innen langfristig gehalten werden, kann eine nachhaltige erfolgreiche Entwicklung der wissenschaftlichen Landschaft in Hessen gewährleitet werden.  

Forschung ist meist Berufung, was gleichzeitig ein erfülltes aber meist auch ein sehr intensives und übervolles Arbeitsleben bedeutet. Gibt es trotzdem Zeit für Ausgleich und Hobbies?

Leider war ich in den letzten zwei Jahren nicht nur inhaltlich sehr eingebunden, sondern musste mich wegen meiner befristeten Stelle intensiv um meine zukünftige Karriere kümmern, sodass mir eigentlich kaum Freizeit blieb. Ich reiste viel, jedoch nur beruflich. Ich wünsche mir wieder, Urlaubsreisen zu unternehmen. Ich liebe die italienische Kultur und genieße es sehr, dort zu sein –  vor allem in Sizilien und Kalabrien. Außerdem tanze ich sehr gerne.

Das Interview führte Tanja Desch, ProLOEWE

Zur Person

  • Professorin für Minderheitensprachen im Mittleren Osten an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
  • Mitglied des Vorstands des LOEWE-Schwerpunkts „Minderheitenstudien: Sprache und Identität“ an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main
  • Globale Professur der Cambridge University

Erschienen in ProLOEWE NEWS

Forschungseinrichtung

Ausgabe 02.2024 | Juli/August

Themen

Die Sommerausgabe der PROLOEWE-NEWS erwartet Sie mit aktuellen Themen aus der LOEWE-Spitzenforschung: der Open eHUB Day des LOEWE-Zentrums emergenCity in Darmstadt, winzige Lebewesen als Bodenhelfer, die von LOEWE-TBG in Frankfurt erforscht werden, das Abschlusssymposium des LOEWE-Zentrums DRUID und neue Erkenntnisse in der Forschung gegen Antibiotakaresistenzen von LOEWE-Diffusible Signals.

ProLOEWE persönlich

Prof. Saloumeh Gholami ist Mitglied des Direktoriums des LOEWE-Schwerpunkts „Minderheitenstudien: Sprache und Identität“. Sie begibt sich mit ihrer Forschung auf die Suche nach der Rolle der Sprache als Trägerin kultureller Identität und Zugehörigkeit.

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