Übersicht

Nachrichten

Spätes Abstillen war kein Grund fürs Aussterben der Neandertaler – LOEWE-Professor Wolfgang Müller leitet Untersuchungen an Neandertaler-Milchzähnen und kommt zu beachtlichen Erkenntnissen

Bisher vermuteten Forscherinnen und Forscher, dass Langzeitstillen ein Grund für das Aussterben der Neandertaler gewesen sein könnte. Demnach hätten die Säuglinge nicht früh genug vielfältige Nährstoffe bekommen, sodass sich ihr Gehirn nicht weiterentwickeln konnte. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Professor Dr. Wolfgang Müller, Sprecher des LOEWE-Schwerpunkts „VeWA – Vergangene Warmzeiten als natürliche Analoge unserer ‚hoch-CO2‘-Klimazukunft“ (VeWA), hat dazu Milchzähne von Neandertaler-Kindern untersucht und herausgefunden, dass die Säuglinge etwa zur gleichen Zeit abgestillt wurden wie heute

Die natürlichen Elemente Strontium und Kalzium, welche in Zähnen und Knochen enthalten sind, geben Hinweise auf die Ernährungsweise zur Zeit der Neandertaler. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Frankfurt Isotope und Element Research Centers (FIERCE) am Institut für Geowissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt untersuchten daher, mithilfe moderner Massenspektrometrie die Milchzähne von vier Neandertaler-Kindern, die vor 40.000 bis 70.000 Jahren in einer Höhle in Nordostitalien lebten. "Wir betteten die Zähne in Harz ein und schnitten sie dann in hauchdünne Schichten – ein für solch seltene Funde äußerst ungewöhnliches Vorgehen, zumal wir die kostbaren Proben hinterher wieder zusammensetzen mussten“, erklärt Wolfgang Müller, Leiter der Arbeitsgruppe.

Da sich jeden Tag eine messbare Schicht Zahnschmelz ablagert, konnten die Forschenden den Zeitpunkt des Abstillens mit 3,8 bis 5,3 Monaten sehr genau bestimmen:  denn in dem Moment steigt die Konzentration an Strontium und sinkt die Konzentration an Kalzium im Zahnmaterial.

 Ein Vergleich mit in den jeweiligen Höhlen gefundenen Nagetierzähnen zeigt zudem, wie lange die Kinder oder ihre Mütter in dieser Umgebung lebten. „Das Strontium-Isotopen-Verhältnis (87Sr/86Sr) liefert uns Informationen über das Gestein und den Boden der Umgebung, in der die Menschen und Nagetiere lebten“, so Müller. Die Zähne erzählen damit Lebensgeschichten: So verbrachte eine der Mütter das Ende der Schwangerschaft sowie die ersten 25 Tage nach Geburt nicht am Fundort, denn die Isotopenzusammensetzung des Milchzahns berichtet von einer anderen Umgebung. Diese Mutter und ihr Kind zählen zu den modernen Menschen des Paläolithikums (40.000 Jahre) und unterscheiden sich deutlich von den früheren Neandertalern (50.000 Jahre) aus derselben Höhle: Der jüngere Zahn weist – verglichen mit einem Neandertaler-Zahn vom selben Fundort - auf unterschiedliche Nahrung und größere Migration in einem kälteren Klima hin. Alle drei Neandertaler-Mütter und -Kinder lebten hingegen die ganze Zeit in derselben Region, waren also anders als bisher vermutet, sehr ortstreu.

Die Erkenntnisse des internationalen Forschungsteams aus Anthropologen, Archäologen, Chemikern, Physikern und Geologen aus den untersuchten vier Milchzähnen weisen darauf hin, dass spätes Abstillen nicht für das Aussterben der Neanderthaler verantwortlich ist. Die täglich angelagerten Zahnschmelzschichten ähneln chemisch jener heutiger Babys – ein Hinweis darauf, dass die Ernährung und Entwicklung erstaunlich ähnlich verliefen.